Die Impfdosen in Deutschland werden knapp, aber das Auswärtige Amt erklärt stolz, dass es fast 100 Millionen Dosen ins Ausland verschenkt. Hauptsache kein „Impfstoffnationalismus“.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erklärt, dass die Reserven und Bestellungen für Impfstoff für das das 1. Quartal 2022 voraussichtlich nicht ausreichen werden. Dies sei das Ergebnis seiner Impfstoffinventur. Jetzt sei noch genug Impfstoff da, aber im nächsten Jahr, wenn man ihn dringend braucht (vor allem für Booster-Impfungen, aber auch für Erstimpfungen) ist nicht genug da. Es soll eine allgemeine Impflicht eingeführt werden, Impfstoff ist aber nicht genug da. Eine Politik voller Widersprüche.
Der absurdeste Widerspruch ist aber: Während Lauterbach vor Impfstoffmangel warnt, heißt es gleichzeitig auf der Seite des Auswärtigen Amtes: „Deutschland spendet 2021 über 100 Millionen Dosen Impfstoff“:
Im Wortlaut schreibt das Auswärtige Amt: „Darüber hinaus spendet die Bundesregierung seit Ende August auch eigene Impfstoffe, die für die nationale Versorgung, einschließlich sogenannter Booster-Impfungen, nicht benötigt werden. Rund 95 Millionen Dosen wurden mittlerweile an COVAX übertragen, die nun Schritt für Schritt ausgeliefert werden. Bis Anfang Dezember wurden davon bereits knapp 27,7 Millionen Dosen an 23 Empfängerstaaten ausgeliefert, weitere rund 65 Millionen Dosen befinden sich aktuell in der Auslieferung oder Liefervorbereitung über COVAX.“
Planungen nicht vorausschauend
Zunächst: Natürlich ist es richtig, Impfstoffe auch für andere Länder großzügig zur Verfügung zu stellen und dafür hohe Beträge auszugeben. Das ist nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten geboten, sondern auch die eigenen Interessen gebieten dies: Die Pandemie ist nicht allein national zu besiegen – man sieht das ja daran, dass in anderen Ländern ständig neue Varianten entstehen, die dann in kürzester Zeit nach Deutschland kommen. Nur: Klar sein muss auch, dass zuerst einmal die eigenen Leute versorgt werden müssen, bevor Impfstoff verschenkt wird.
Es war schon im Sommer klar, dass es im Herbst eine vierte Welle geben wird. Es war auch klar, dass eine doppelte Impfung nicht ausreichen wird. Aber trotzdem hat man damals zugesagt, 100 Millionen Dosen zu verschenken. Das war leichtfertig und zeugt nicht von vorausschauender Planung.
Aber es steckt noch mehr dahinter. Die Angst vor dem sogenannten „Impfstoffnationalismus“. In hervorgehobener Schrift verkündet das Auswärtige Amt auf der eben genannten Seite: „Für multilaterale Lösungen statt Impfstoffnationalismus.“
„Impfstoffnationalismus“
Eine Rückschau: Woher kommt der Begriff „Impfstoffnationalismus“? Er wurde schon geprägt, als der Impfstoff gerade erst erfunden worden war. Damals warnten die deutschen Politiker in schrillen Tönen vor „Impfstoffnationalismus“. Deshalb organisierten sie die Bestellungen über die EU, was sich jedoch als großer Fehler erwiesen, weil Ursula von der Leyen und ihre Mitarbeiterinnen damit offensichtlich überfordert waren. Aus Furcht davor, des „Impfstoffnationalismus“ bezichtigt zu werden, hat Deutschland nicht das gemacht, was wohl jedes andere Land gemacht hätte: Zuerst an die eigenen Leute denken.
Der Biontech-Impfstoff wurde in Deutschland erfunden. Und die Entwicklung wurde mit deutschen Steuergeldern erheblich gefördert. Beim Impfen lag Deutschland in den ersten Monaten weit hinter anderen Ländern wie Israel, USA oder Großbritannien zurück, was aber nicht – wie später dann – an der Impfskepsis in Deutschland lag, sondern daran, dass die Politik bei der Impfstoffbeschaffung versagt hatte und daher nicht genug Impfstoff zur Verfügung stand.
Die Parole hieß: Der Impfstoff müsse „gerecht“ in der EU verteilt werden, alles andere sei „Impfstoffnationalismus.“ Bundespräsident Steinmeier kritisierte damals die USA für ihren „Impfstoffnationalismus“, aber die USA haben vernünftiger gehandelt als Deutschland und viele Monate früher den Impfstoff bestellt.
Nachdem Deutschland die Sache an die EU delegiert hatte, wurde es von der EU zusätzlich vermurkst, u.a. dadurch, dass zu spät bestellt wurde – und weniger, als man hätte kaufen können. Biontech-Chef Ugur Sahin wunderte sich damals: „Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.“
Sandra Maischberger erklärte damals in ihrer Talkshow im Gespräch mit dem damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble: „Als Bürger hat man doch ein Recht darauf, dass der Staat zumindest nicht vermeidbare Todesfälle in Kauf nimmt oder provoziert. Und da sind wir beim Impfen an einem wirklich wunden Punkt. Beim Impfen kann man doch sagen, dass der Staat seine Fürsorgepflicht gegenüber dem Bürger nicht richtig wahrgenommen hat. Denn jede Impfung, die zu spät kommt, die nicht vergeben wird, kann bedeuten, dass jemand zu Tode kommt und das ist unnötig, wenn wir auf die anderen Länder um uns herum blicken.“
Schäuble: „Den Preis muss man zahlen, wenn man Europa stärker will.“
Schäuble antwortete darauf: „Naja, ich meine zunächst einmal, ich habe schon gesagt, der Gesundheitsminister hat früh darauf hingewiesen, was eigentlich selbstverständlich ist, wir werden nicht gleich für alle haben. Zweitens, auch heute in der Debatte ist auch von Oppositionsfragestellern gesagt worden: Es nützt ja nichts, wenn wir in Deutschland das Virus besiegen oder wie man das nennt. Deswegen war der Ansatz richtig, es in Europa weit zu beschaffen, obwohl der ein bisschen komplizierter ist. Den Preis muss man zahlen, wenn man Europa stärker will. Europa ist ein bisschen komplizierter, muss man auch sagen.“
Schäubles Sicht, man müsse zur Stärkung Europas in Kauf nehmen, dass Menschen in Deutschland später geimpft werden, hatte seinerzeit auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Beitrag für die FAZ vertreten: „Auch ich stelle mir diese Fragen jeden Tag: Hätten wir schneller sein können? Und wäre ein einzelner Mitgliedstaat schneller gewesen?… Ja, es dauert vielleicht länger, Entscheidungen zu 27 zu treffen als allein. Aber stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn am Anfang nur ein oder zwei Mitgliedstaaten Impfstoffe erhalten hätten. Das wäre für einige große Staaten wie Deutschland denkbar gewesen. Aber was hätte das für unsere Einheit in Europa bedeutet? Diese Abkehr von unseren europäischen Werten hätte nicht wenige gestärkt, sondern alle geschwächt. Das wäre an die Grundfesten Europas gegangen.“
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 5. Februar sagte von der Leyen, mit Blick auf die Kritik, dass die EU den Impfstoff zu zögerlich bestellt habe: „Natürlich: Ein Land kann ein Schnellboot sein. Und die EU ist mehr ein Tanker.“
Mit diesen Äußerungen haben von der Leyen und Schäuble zugegeben, dass die Impfstoffbeschaffung durch einzelne Länder schneller gegangen wäre als durch die EU.
Der Fairness halber muss man sagen: Inzwischen vertritt die Bundesregierung nicht mehr die Haltung, dass direkte Bestellungen bei Firmen wie Biontech „Impfnationalismus“ seien. Karl Lauterbach hat erklärt, dass er auch direkt mit den Firmen spreche – natürlich alles europäisch eingebettet, was auch immer das genau bedeuten soll.
Meiner Meinung nach lag der Fehler von Anfang an darin, dass Deutschland sich nicht einen ersten Zugriff zumindest auf den Impfstoff gesichert hat, der hierzulande erfunden, mit Hunderten Millionen Steuergeldern gefördert und produziert wurde. Es hätte von vornherein klar sein müssen: Zuerst werden die eigenen Landsleute bedacht, und dann produzieren wir mit aller Kraft auch für andere Länder. Dass Deutschland eines der Länder weltweit ist, dass am meisten hilft, Impfstoff auch für andere Länder zur Verfügung zu stellen ist richtig – aber es wird falsch, wenn das dazu führt, Millionen Impfstoffdosen zu verschenken, obwohl hierzulande zu wenig da ist.
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